Die Sache mit der MenschenwĂŒrde
Im ersten Absatz des ersten Artikels des Grundgesetzes steht das bundesrepublikanische Glaubensbekenntnis: âDie WĂŒrde des Menschen ist unantastbar.â Kein anderer Satz ist in Deutschland derart demonstrativ konsensfĂ€hig, kein anderer Satz bedient derart das deutsche BedĂŒrfnis nach moralischer, nicht zuletzt erinnerungspolitischer Selbstvergewisserung, und kein anderer Satz der Verfassung eignet sich gerade deshalb derart gut fĂŒr politisch zweckentfremdete Feindmarkierungen.
In einem der unrĂŒhmlichsten VorgĂ€nge der jĂŒngeren deutschen Politikgeschichte hat das die Potsdamer Professorin Frauke Brosius-Gersdorf erfahren mĂŒssen. Bekanntlich kollabierte noch am Tag ihrer geplanten Wahl die notwendige Zweidrittelmehrheit, weil innerhalb der Unionsfraktion etwa sechzig Abgeordnete signalisierten, nicht fĂŒr die Kandidatin stimmen zu wollen. Der sachliche Tagesordnungspunkt wurde flugs entfernt, stattdessen entspann sich im Plenum eine parlamentspolitische Debatte; begleitet, besser: getrieben von einer einigermaĂen beispiellosen Kampagne rechtsorientierter Medienunternehmen. Abgesehen von dem ebenso rasend schnell produzierten wie ausgerĂ€umten Plagiatsvorwurf eines bereits wegen ĂŒbler Nachrede vorbestraften âPlagiatsjĂ€gersâ stellte das ZentralstĂŒck der VorwĂŒrfe eine angebliche Missachtung der MenschenwĂŒrde dar.
Die zwei âLösungenâ des Bundesverfassungsgerichts
Sie grĂŒndeten sich wesentlich auf den Auffassungen der Juristin zu den konstitutionellen Grenzen des Schwangerschaftsabbruchs (vgl. die heutige Stellungnahme von Frauke Brosius-Gersdorf). In der vorangegangenen Legislaturperiode war sie stellvertretende Koordinatorin einer Kommission âzur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizinâ, die in ihrem Abschlussbericht empfahl, den Abbruch in der FrĂŒhphase der Schwangerschaft als vollumfĂ€nglich rechtmĂ€Ăig anzuerkennen â statt ihn wie gegenwĂ€rtig nach § 218a StGB nur unter bestimmten UmstĂ€nden vom Tatbestand auszunehmen oder zu rechtfertigen. In den sozialen Medien wurde zusĂ€tzlich der anderthalb SĂ€tze umfassende Ausschnitt aus einem Festschriftbeitrag fĂŒr ihren akademischen Lehrer Horst Dreier skandalisiert, in dem sie schrieb: âDie Annahme, dass die MenschenwĂŒrde ĂŒberall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschlussâ (F. Brosius-Gersdorf, S. 756). Das ist eine juristisch vertretbare und analytisch begrenzte Feststellung. DarĂŒber, wo die MenschenwĂŒrde positiv greift, ist schlieĂlich noch nichts gesagt. Zugleich ist sie nur vor dem Hintergrund zweier grundlegender Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen zu verstehen.
Das Bundesverfassungsgericht kassierte im Jahr 1975 den kurz zuvor von der sozialliberalen Koalition reformierten § 218 StGB, der eine sogenannte Fristenlösung beinhaltete. Im ersten Trimester der Schwangerschaft sollte der Abbruch gĂ€nzlich straffrei bleiben. Mit diesem Urteil war nicht unbedingt zu rechnen. Im Grundgesetz ist bis auf eine Ausnahme (Art. 26 Abs. 1 S. 2 GG) keine Norm zu finden, die die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens positiv gebietet. Das Gericht lieĂ sich davon nicht beeindrucken. Aus dem Grundrecht auf Leben konstruierte es vielmehr eine sogenannte Schutzpflicht, die dem Gesetzgeber die Entkriminalisierung geradewegs untersagte. Damit nicht genug, ihm war sogar eine bestimmte strafrechtliche Ausgestaltung anbefohlen. Er durfte allenfalls eng umgrenzte GrĂŒnde (beispielsweise schwere soziale Not oder Gewalteinwirkung) benennen, die die individuelle Strafe â nicht: die Rechtswidrigkeit â ausnahmsweise entfallen lieĂ. Im zweiten Urteil von 1993 blieb das Bundesverfassungsgericht bei der Schutzpflicht, rang sich aber dennoch dazu durch, eine pauschale Fristenlösung unter der MaĂgabe zu akzeptieren, dass der weiterhin rechtswidrige Abbruch bis zur 12. Woche nur dann straffrei blieb, wenn zuvor eine Beratung (daher: âBeratungslösungâ) erfolgt war.
Die zwei Seiten der MenschenwĂŒrde
Bei diesen beiden Urteilen nun spielte die MenschenwĂŒrde eine merkwĂŒrdige, fĂŒr sie allerdings charakteristische Doppelrolle. Sie ist einerseits Rechtssatz. Im besagten ersten Absatz des ersten Grundgesetzartikels steht sie wohl als ein Grundrecht unter anderen. Diese (abwehr-)rechtliche Seite verbietet konkrete Eingriffe absolut, etwa die Folter oder den Abschuss eines von Terroristen entfĂŒhrten Flugzeugs. Ist der sogenannte Schutzbereich der MenschenwĂŒrde einmal berĂŒhrt, kann das staatliche Handeln unter keinem Gesichtspunkt mehr gerechtfertigt sein. Auf diese Hinsicht kam es in beiden Urteilen indes niemals an. Das ist auch kaum ĂŒberraschend, denn durch die Tötung eines Menschen ist dessen MenschenwĂŒrde nicht per se verletzt. Das Grundgesetz erlaubt in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG ausdrĂŒcklich, in das Lebensrecht aufgrund eines Gesetzes einzugreifen. Weiterhin hĂ€tte das Gericht andernfalls auch keine wie auch immer gearteten Ausnahmen von der Strafe zulassen können. Das Grundrecht der MenschenwĂŒrde ist der AbwĂ€gung nicht zugĂ€nglich.
Was also ist uns die MenschenwĂŒrde noch? Sie ist ein Wert. Ohne die philosophisch recht tragische Geschichte des modernen Wertbegriffs aufrollen zu wollen, ist doch festzustellen, dass wir es mit einem höchst ambivalenten Gegenstand zu tun haben. In Sonderheit das Bundesverfassungsgericht bedient sich seit dem LĂŒth-Urteil von 1958 mit gröĂter Hingabe dieser Kategorie, um bestimmte verfassungsrechtliche Herleitungen metaphorisch ausladend auszuschmĂŒcken. Die MenschenwĂŒrde ist dabei als gesetzter âMittelpunkt des Wertsystems der Verfassungâ besonders vielseitig einsetzbar. Im Rahmen des Schwangerschaftsabbruchs spielt sie eine bemerkenswerte Rolle. Weniger fungiert sie hier als Rechtsgrund, denn vielmehr als basso continuo eines höchstrichterlich erkannten sittlichen Minimums. FĂŒr den âSchutz des ungeborenen Lebensâ hĂ€tte es ja keinen Unterschied gemacht, ob die Eizelle subjektiv ab Befruchtung an der MenschenwĂŒrde teilhat oder das Lebensrecht diesen Vorgang lediglich objektiv zu schĂŒtzen verpflichtet. In beiden FĂ€llen wĂ€re die Kriminalisierungspflicht das Ergebnis gewesen.
Das Bundesverfassungsgericht als SittenwÀchter
Was die Verleihung der MenschenwĂŒrde an diese jeweilige Eizelle dahingegen ermöglicht, ist die Konstitution eines eigenstĂ€ndigen Subjekts im Mutterleib. Somit ist dem Schwangerschaftsabbruch nicht nur verfassungsrechtlich die Strafbarkeit verordnet, ihr ist auch vom âWertsystemâ des Grundgesetzes â oder den Richtern (sic!) des damaligen Ersten Senats â eine âsozialethische MiĂbilligungâ erteilt. Diese ĂŒbervĂ€terliche AnmaĂung des Gerichts notierten Richterin v. BrĂŒnneck und Richter Simon in einem Sondervotum, und erwiderten spitz: âIn einem pluralistischen, weltanschaulich neutralen und freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen bleibt es den gesellschaftlichen KrĂ€ften ĂŒberlassen, Gesinnungspostulate zu statuieren.â In der zweiten Entscheidung von 1993 wird der Sittlichkeitspathos zwar oberflĂ€chlich weitgehend zurĂŒckgefahren, die âintensive, die Frau existentiell [!] betreffende Pflicht zum Austragen und GebĂ€ren des Kindesâ lĂ€sst sich der Senat gleichwohl nicht nehmen. Der Frau als Schwangeren bleibt das âWertsystemâ des Grundgesetzes ein stahlhartes GehĂ€use.
Insofern stehen Kommissionsbericht und Festschriftbeitrag tatsĂ€chlich im Widerspruch zur ĂŒberkommenden Verfassungsauslegung des Bundesverfassungsgerichts. Das ist, anders als in diesen Tagen nicht selten unterstellt, keineswegs unĂŒblich. In der Rechtswissenschaft werden regelmĂ€Ăig Ansichten vertreten, die von denen des Gerichts abweichen â obgleich dessen Rechtsprechung in letzter Zeit gerade das Lebensrecht von kryptotheologischer VerselbststĂ€ndigung (âLebenspflichtâ) auf persönliche Autonomie umgesattelt hat (vgl. insb. die Auseinandersetzung mit christlichen Standpunkten im Urteil zum Verbot geschĂ€ftsmĂ€Ăiger Sterbehilfe, Rn. 208-211). Ob sich die verfassungsrechtlich verbrĂ€mten âGesinnungspostulateâ des Jahres 1975 gegen eine echte demokratische Aushandlung im Mehrheitsverfahren weiter sperren können, ist eine mindestens diskussionswĂŒrdige Frage. Im Nachgang des Kommissionsberichtes sprachen Melina Reyher und Luisa Weyers daher von einem möglichen âneuen Kompromissâ. Dass im Ăbrigen eine staatliche Einrichtung (und eine solche ist das Bundesverfassungsgericht entgegen einem verbreiteten Volksglauben genauso wie die Bundesregierung) der Wissenschaft keine geistige Marschroute vorgeben kann, dĂŒrfte sogar vielleicht von der Wissenschaftsfreiheit intendiert sein.
In Anbetracht der dargelegten Rechtsprechung wird allerdings ebenfalls allzu einsichtig, warum sich die MenschenwĂŒrde fĂŒr jene konturlose, totalisierte, enthemmte Diskursdynamik besonders gut hergibt, die in den letzten Tagen so fĂŒrchterlich ĂŒber die deutsche Ăffentlichkeit hereinbrach: Die Behandlung der MenschenwĂŒrde in spezifisch juristischen Kontexten, mitsamt deren methodischen und geltungstheoretischen Annahmen, lĂ€sst sich umstandslos in die polemische Gefechtszone universalistischer Moral hineintragen. Wer die MenschenwĂŒrde mit dem herkömmlichen juristischen Instrumentarium als Recht behandelt, lĂ€uft unmittelbar Gefahr, ihr als âWertâ ausgeliefert zu sein. So kann man in der Zeitung âDie Weltâ, in âNiusâ oder aus dem rechtskatholischen Milieu heraus Frauke Brosius-Gersdorf der vermeintlich fehlenden âAchtungâ der MenschenwĂŒrde bezichtigen, aus der gesellschaftlichen âMitteâ â knapp 75% der Deutschen befĂŒrworten einen rechtmĂ€Ăigen Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen â verbannen und sie mitunter auch kaum verhohlen als Menschenfeindin diffamieren, ohne dass der ursprĂŒngliche, wissenschaftliche Publikationszusammenhang dort jemandem Grund zum Zögern gibt. Eine rechtswissenschaftlich abgestĂŒtzte Kritik beansprucht niemand auch nur ansatzweise; man hat eben immerhin die MenschenwĂŒrde zur Hand, mal moralisch, mal theologisch, nie juristisch.
Werttyrannei?
Die hier beschriebenen Gefahren der Wert-MenschenwĂŒrde sind in einem kleinen Privatdruck des Jahres 1960 so idiosynkratisch wie ertragreich ausgearbeitet. Verfasst wurde die Schrift namens âDie Tyrannei der Werteâ von Carl Schmitt, dem Neu-Kantianer des Kaiserreiches, legitimitĂ€tsbesessenen RechtsautoritĂ€ren der Weimarer Republik und legalitĂ€tsverachtenden Kronjuristen des Nationalsozialismus, der in den Nachkriegsjahren urplötzlich seine innige Liebe zur gesetzlichen Form entdeckte. Mit Max Weber weist Schmitt auf die besondere Kompromisslosigkeit des âWertdenkensâ hin. FĂŒr ihn lauert der BĂŒrgerkrieg gleich hinter der nĂ€chsten Ecke. Ungeachtet des paranoiden Tons und der teilweise unertrĂ€glich durchsichtigen Larmoyanz des Textes hĂ€lt er doch eine immer noch wertvolle Einsicht bereit: Werte kennen kein Verfahren, keine rationale Vermittlung, und keine rechtsstaatliche Trennung von Staat und Gesellschaft. Sie sind dem liberalen Staat eigentlich fremd.
Trotzdem kann mit ihnen, wie der mittlerweile recht ausgefeilte Wertformalismus des Bundesverfassungsgerichts pragmatisch beglaubigt, dogmatisch und vor allem rechtspraktisch ĂŒberraschend rechtssicher hantiert werden. Was immer dem Gericht die Werte zu Anfang bedeuteten, sie sind heute grundsĂ€tzlich in eine liberal gezĂ€hmte Begriffssprache assimiliert worden. Wissenschaftlich indes sind dabei nicht bloĂ weiterhin die bekannten autoritĂ€ren Potentiale von scheinbar objektiven Werteordnungen kritisch zu reflektieren. Es ist ebenso darĂŒber nachzudenken, welche diskursiven SprengsĂ€tze das lĂ€ngst nicht mehr auf die Rechtswissenschaft beschrĂ€nkte Wertdenken in die Ăffentlichkeit eingebracht hat. Einer hat jedenfalls letzten Freitag gezĂŒndet, und der Schaden an Person wie Institution ist groĂ.
Redaktionelle Notiz: Der Text enthielt in einer frĂŒheren Fassung den Hinweis, dass der Zweite Senat des BVerfG nicht mit verfassungsrechtlichen Fragen des Schwangerschaftsabbruchs befasst werden wĂŒrde. Der Hinweis ist nachtrĂ€glich entfernt worden.
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