RFK Jr.: «Das gesamte System der Organtransplantation muss reformiert werden»

Was eint den ehemaligen US-PrĂ€sidenten Barack Obama, die Schauspieler Daniel BrĂŒhl, Til Schweiger und JĂŒrgen Vogel, den Musiker Peter Maffay und die Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey? Sie alle haben sich stark gemacht fĂŒr Organspenden. Doch so ehrenhaft es klingen mag, dass jemand bereit ist, seine eigenen Organe einem anderen Menschen zu «spenden», der etwa mit dem Leben kĂ€mpft, weil seine Leber irreparabel geschĂ€digt ist, so sehr regen Berichte ĂŒber den Umgang mit «Toten», denen Organe entnommen werden, zum Nachdenken an.
Hirntod erst Ende der 1960er als Todesursache anerkannt
Der Begriff «Tote» ist hier bewusst in AnfĂŒhrungszeichen gesetzt worden, da es in der Organspende-Medizin ausreicht, dass eine Person hirntot ist. Doch gegen die Einordnung von «hirntot» als «vollstĂ€ndig tot» spricht vor allem, dass die Körperfunktionen fortbestehen. So sind beim Hirntod zwar alle Hirnfunktionen irreversibel ausgefallen, doch der Körper kann mit kĂŒnstlicher Beatmung oft noch Herzschlag, Kreislauf und Stoffwechsel aufrechterhalten. Teile des Körpers «leben» also noch. Aus philosophischer Sicht wird hier vorgetragen, dass, wenn der Körper noch Prozesse zeige, man den Menschen nicht als «tot» bezeichnen könne, sondern von einem «Grenzzustand» sprechen mĂŒsse.
Fakt ist, dass es enorme Auswirkungen hĂ€tte auf die Organspende-«Industrie», wenn der Hirntod nicht als Tod anerkannt wĂŒrde. Das war auch nicht immer so. Denn der Hirntod als Kriterium fĂŒr den Tod eines Menschen, der die Entnahme von Organen ermöglicht, wurde erst in den 1960er Jahren eingefĂŒhrt. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Harvard Medical School, die in einem wegweisenden Bericht, veröffentlicht 1968 im Journal of the American Medical Association (JAMA), den «irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen» als Tod festlegte.
Kurz danach, Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, wurde dieses Kriterium weltweit zunehmend anerkannt und in Gesetze und medizinische Standards ĂŒbernommen. In Deutschland wurde der Hirntod offiziell 1979 mit der Richtlinie der BundesĂ€rztekammer zur Feststellung des Hirntods als Todesursache anerkannt. Dies ermöglichte dann eben die Organentnahme bei hirntoten Patienten fĂŒr Transplantationszwecke.
«Ein veraltetes System und rĂŒcksichtslose Missachtung menschlichen Lebens»
Wie bedenklich dies ist, darauf hat nun sogar das US-Gesundheitsministerium HHS hingewiesen. So habe, wie es in einer Mitteilung heiĂt, eine Untersuchung der Health Resources and Services Administration (HRSA) beunruhigende Praktiken einer groĂen Organbeschaffungsorganisation aufgedeckt (TN berichtete). «Unsere Ergebnisse zeigen, dass KrankenhĂ€user den Prozess der Organbeschaffung gestatteten, wenn die Patienten noch Lebenszeichen zeigten. Das ist erschreckend», wie HHS-Leiter Kennedy Jr. zitiert wird. Der 71-JĂ€hrige fordert:
«Die Organbeschaffungsorganisationen, die den Zugang zu Transplantaten koordinieren, werden zur Rechenschaft gezogen. Das gesamte System muss reformiert werden, um sicherzustellen, dass das Leben jedes potenziellen Spenders mit der ihm gebĂŒhrenden Heiligkeit behandelt wird.»
In der Mitteilung heiĂt es weiter:
«Diese Ergebnisse des HHS bestĂ€tigen, wovor die Trump-Regierung schon lange warnt: Verwurzelte BĂŒrokratien, veraltete Systeme und rĂŒcksichtslose Missachtung menschlichen Lebens haben unsere schwĂ€chsten BĂŒrger nicht geschĂŒtzt. Unter der FĂŒhrung von Minister Kennedy stellt das HHS IntegritĂ€t und Transparenz in der Organbeschaffungs- und Transplantationspolitik wieder her, indem es das Leben der Patienten in den Mittelpunkt stellt.
Diese Reformen sind unerlĂ€sslich, um Vertrauen wiederherzustellen, eine informierte Einwilligung sicherzustellen und die Rechte und die WĂŒrde potenzieller Spender und ihrer Familien zu schĂŒtzen.»
Zeitspanne zwischen Hirntod und Herzstillstand kann bis zu 14 Jahre betragen
Doch bereits zuvor regte sich immer wieder einschneidende Kritik am Organtransplantationssystem. Die Taz etwa brachte 2010 den Beitrag «Neue Zweifel am Hirntod». Darin heiĂt es:
«Werden Organe von einem Toten entnommen, muss der Hirntod eingetreten sein. Doch ist der Mensch dann wirklich tot? Experten melden Zweifel an.»
Zwar stehe der Begriff «Hirntod» gemÀà Transplantationsgesetz fĂŒr den «endgĂŒltigen, nicht behebbaren Ausfall der Gesamtfunktion des GroĂhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms» â und diese Diagnose bedeute, dass der Betreffende tot sei. Daran gebe es «keine wissenschaftlichen Zweifel», betone die Bundeszentrale fĂŒr gesundheitliche AufklĂ€rung (BZgA). Auch die Kirchen sĂ€hen das so.
Andere Informationen verbreitet jedoch die Physikerin und Medizinethikerin Sabine MĂŒller vom Berliner UniversitĂ€tsklinikum CharitĂ©. In ihrem Aufsatz «Revival der Hirntod-Debatte», erschienen im Fachblatt Ethik in der Medizin, liest man: Die seit Jahrzehnten vertretene, biologische BegrĂŒndung fĂŒr das Konzept vom Hirntod sei «empirisch widerlegt». MĂŒller beruft sich vor allem auf ein 2008 veröffentlichtes «White Paper» (WeiĂbuch) des US-amerikanischen President's Council on Bioethics.
Dieses Politikberatungsgremium, eine Art Pendant zum Deutschen Ethikrat, hĂ€tte eingerĂ€umt, dass das integrierte Funktionieren des Körpers «nicht unbedingt kurz nach Eintritt des Hirntodes aufhöre». Also sei das Hauptargument derjenigen entkrĂ€ftet, die den Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichsetzen, so MĂŒller. Der US-Ethikrat verweist in diesem Zusammenhang auf Veröffentlichungen von Alan Shewmon. Der Neurologe hatte bis 1998 ĂŒber 170 dokumentierte FĂ€lle gefunden, in denen zwischen Feststellung des Hirntodes und Eintritt des Herzstillstands viel Zeit vergangen war: Die Spannen reichten von mindestens einer Woche bis zu 14 Jahren.
Mutter hĂ€lt «verstorbenem» Sohn im Krankenhaus «seine warme groĂe Hand»
Gisela Meyer, verwaiste Mutter aus Bad Bodendorf, sah sich 2005 zu einem Vortrag veranlasst, dem sie den Titel «Das habe ich nicht gewusst» gab. Als Hintergrund nennt sie folgendes persönliche tragische Ereignis:
«Im Jahre 1991 verunglĂŒckte unser Sohn Lorenz. Er war ein 15-jĂ€hriger Junge, so groĂ geworden, witzig, voller Lebenskraft und -freude, krĂ€ftig und schön. Beim Skifahren hatte er sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen. Sein Gesicht, alles, sah völlig unverletzt aus. Das einzig Bedrohliche war die kĂŒnstliche Beatmung. Ich konnte nur das eine glauben: Er wĂŒrde die Augen wieder aufmachen. DafĂŒr betete ich inbrĂŒnstig.
Nach einer durchwachten Nacht teilte mir der Arzt auf dem Flur mit, mein Sohn sei tot, wir möchten bitte ĂŒberlegen, ob wir Organe spenden könnten. Gebraucht wĂŒrden Herz, Leber, Nieren und Augen und bis zum nĂ€chsten Morgen mĂŒssten wir uns entschieden haben â und weg war er. Ăber mich kam fĂŒr einen Moment ein groĂes Zittern, dann war alles wie ausgelöscht.»
Organspende, dachte sie zu diesem Zeitpunkt noch, mĂŒsse etwas Gutes sein, denn es helfe ja Anderen. Und natĂŒrlich, so ihr damaliger Glaube, sei der Mensch tot, dem die Organe entnommen werden. Im Organspendeausweis stehe doch auch «nach meinem Tod». Doch «dass Ărzte nicht davor zurĂŒckschrecken, einen sterbenden Menschen mit Hirnversagen, dem sogenannten Hirntod, mit allen Mitteln Ă€rztlicher Kunst am Leben zu halten, damit sie seine lebenswichtigen Organe bekommen», das hĂ€tte sie nicht fĂŒr möglich gehalten.
TatsĂ€chlich sei ihr Sohn zunĂ€chst auch noch weiter gepflegt und seine volle Urinflasche auch noch weiter geleert worden. Er habe sein Bein auf BerĂŒhrung hin auch noch bewegt, und er habe weiter Medikamente bekommen. «NatĂŒrlich zu seiner Heilung», so dachte sie. Und so habe sie weiter gewacht, seine warme groĂe Hand gehalten und ihn gestreichelt.
Erst spÀter habe sie erfahren, dass bereits zu diesem Zeitpunkt, als der Hirntod noch nicht einmal festgestellt worden sei, seine Pflege und die Medikamente schon nicht mehr ihm gegolten hÀtten. Meyer:
«Er war in den Augen der Ărzte nicht mehr der Mensch Lorenz, sondern ihr Blick sah in ihm Material zur Weiterverarbeitung. In seinen Unterlagen, an die wir nur mit Hilfe eines Rechtsanwaltes kamen, hört sich das so an:
âčDie Eltern sahen dann den Körper des verstorbenen Patienten, der aber weiterhin kĂŒnstlich beatmet wurde bei spontaner Herzfrequenz. Es scheint, dass die Eltern nicht verstanden, dass, als sie ihren Sohn gesehen haben, dieser bereits tot war.âș
Wir also waren die Dummen! Doch wir nahmen wahr, was wahr war, nÀmlich unser lebendes Kind, und wir hofften nach wie vor auf seine Heilung. Wir wurden weiter mit der Frage nach Organen gequÀlt.»
Nach eigenem Bekunden hat Meyer privat und beruflich Sterbende begleitet und Tote gesehen. «Ich weiĂ, dass im Sterben noch viel passiert. Ich glaube den Behauptungen nicht, dass ein sogenannter Hirntoter nichts mehr empfindet, nachdem ich in das Gesicht meines jetzt wirklich toten Kindes gesehen hatte.» Was sie dabei «so empört»:
«Durch die Organentnahme habe ich meinem Sohn in den letzten Stunden seines Lebens nicht zur Seite stehen können. Welche Mutter wĂŒrde ihr Kind im Krankheitsfall verlassen? Ich muss damit leben, dass ich es im Sterben im Stich gelassen habe. Lorenz selbst konnte nicht mehr rufen, bleib bei mir.»
«Sterbender, wehrloser Mensch wird bei Organentnahme entwĂŒrdigt»
Ihrem Bruder, der zwei Jahre zuvor gestorben sei, habe sie diesen Wunsch erfĂŒllen können. Dabei habe sie erfahren, wie viel Trost von einer wĂŒrdevollen Begleitung ausgehe und wie sehr es in der Trauer helfe, einem Menschen die letzten Liebesdienste erwiesen zu haben. Auch gehe am Ende oft eine Ahnung davon aus, dass das Leben mit diesem Leben nicht beendet sei. «Das alles hat in der Transplantationsmedizin gar keinen Stellenwert», so die EinschĂ€tzung von Meyer.
Was sie noch «so empört», sei die «Scheinheiligkeit». So gebe es in den GesangbĂŒchern der christlichen Kirchen Texte fĂŒr die Begleitung Sterbender bis zuletzt, und in öffentlichen Reden wĂŒrden Kirchenvertreter dafĂŒr eintreten, den Weg eines Sterbenden mitzugehen bis zuletzt. «Wieso aber lassen sie dann bei Organtransplantation zu, dass der Mensch in seinem schwĂ€chsten Moment so entwertet und entwĂŒrdigt wird?», fragt Meyer. Und was sie nicht zuletzt auch «so empört», sei «die Grausamkeit»:
«Obwohl man weiĂ, dass Sterben ein sensibler Prozess ist, obwohl man normalerweise alles tut, um mit Menschen in dieser Situation behutsam umzugehen, obwohl man ihre Schmerzen lindert und ihnen die Zusicherung gibt, sie nicht allein zu lassen, auch wenn sie nicht mehr ansprechbar sind, wird bei der Organentnahme ein sterbender, wehrloser Mensch auf die Trage gelegt, in den Operationssaal gefahren, in vielen FĂ€llen sogar in ein anderes Krankenhaus transportiert.
Er wird unter Aufrechterhaltung der Beatmung, der Herz- und KreislauftĂ€tigkeit einem entwĂŒrdigenden Akt ausgeliefert. Man nimmt ihm seine WĂŒrde vollends, indem man ihm auch noch den Namen nimmt und ihn zur Nummer macht.»