Versionsunterschiede von News / Alexander Solschenizyn Lebe Nicht Von Lügen





Nächste Änderung →

hinzugefügt:
 "Was sollten wir denn dagegen tun? Wir haben nicht die
Kraft." Wir sind
vom Menschlichen so hoffnungslos entfernt, daß wir für das tägliche
kümmerliche Stückchen Brot alle Grundsätze aufgeben, unsere Seele,
alles,
worum sich unsere Vorfahren mühten, alle Möglichkeiten für die
Nachkommen - um
ja nicht unserere jämmerliche Existenz zu zerrütten.
    Keine Härte, kein Stolz, kein leidenschaftlicher Wunsch ist uns
geblieben.
Wir fürchten nicht einmal den allgemeinen Atomtod, fürchten nicht den
Dritten
Weltkrieg (vielleicht verkriechen wir uns in ein Mauseloch), wir
fürchten nur
die Akte der Zivilcourage! Sich bloß nicht von der Herde lösen, keinen
Schritt
alleine tun - und plötzlich ohne Weißbrot, Warmwasserbereiter, ohne
Aufenthaltsgenehmigung für Moskau dastehen.
Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen
zwingt,
in ihm zu leben. Das geht über die Demütigung der geistigen Abtrennung
noch
hinaus, dann wird das Reich der verkehrten Welt aufgerichtet, und der
Antichrist trägt die Maske des Erlösers, wie auf Signorellis Fresco in
Orvieto. Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der
Verleumder, ist
der Gott, in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern
Herrschaft. Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die
Erkenntnis, er stiftet das Reich der Verrücktheit, denn es ist
Wahnsinn, sich
in der Lüge einzurichten.
Doch niemals wird sich etwas von selbst von uns lösen, wenn wir es
alle Tag
für Tag anerkennen, preisen und ihm Halt geben, wenn wir uns nicht
wenigstens
von seiner spürbarsten Erscheinung losreißen. Von der LÜGE. (...)
Und hier liegt nämlich der von uns vernachlässigte, einfachste und
zugängigste
Schlüssel zu unserer Befreiung: SELBST NICHT MITLÜGEN! Die Lüge mag
alles
überzogen haben, die Lüge mag alles beherrschen, doch im kleinsten
Bereich
werden wir uns dagegen stemmen: OHNE MEIN MITTUN!
Und das ist der Durchschlupf im angeblichen Kreis unserer Untätigkeit!
- Der
leichteste für uns und der zerstörerischte für die Lüge. Denn wenn die
Menschen von der Lüge Abstand nehmen - dann hört sie einfach auf zu
existieren. Wie eine ansteckende Krankheit kann sie nur in den
Menschen
existieren.
Wir wollen nicht ausschwärmen, wollen nicht auf die Straße gehen und
die
Wahrheit laut verkünden, laut sagen, was wir denken - das ist nicht
nötig, das
ist schrecklich. Doch verzichten wir darauf, das zu sagen, was wir
nicht glauben.
Unser Weg: IN NICHTS DIE LÜGE BEWUSST UNTERSTÜTZEN! Erkennen, wo die
Grenze
der Lüge ist (für jeden sieht sie anders aus) - und dann von dieser
lebensgefährlichen Grenze zurücktreten! Nicht die toten Knöchelchen
und
Schuppen der Ideologie zusammenkleben, nicht den vermoderten Lappen
flicken -
und wir werden erstaunt sein, wie schnell und hilflos die Lüge
abfällt, und
was nackt und bloß dastehen soll, wird dann nackt und bloß vor der
Welt dastehen.
Somit, laßt uns unsere Schüchternheit überwinden, und möge jeder
wählen: ob er
bewußter Diener der Lüge bleibt (natürlich nicht aus Neigung, sondern
um die
Familie zu ernähren, um die Kinder im Geist der Lüge zu erziehen!),
oder ob
die Zeit für ihn gekommen ist, sich als ehrlicher Mensch zu mausern,
der die
Achtung seiner Kinder und Zeitgenossen verdient. Und von diesem Tage
an wird er:
- in Zukunft keinen einzigen Satz, der seiner Ansicht nach die
Wahrheit
entstellt, schreiben, unterschreiben oder drucken;
- einen solchen Satz weder im privaten Gespräch, noch vor einem
Auditorium,
weder im eigenen Namen noch nach einem vorbereiteten Text, noch in der
Rolle
des politischen Redners, des Lehrers und Erziehers, noch nach einem
Bühnenmanuskript aussprechen;
- in Malerei, Skulptur und Fotografie mit technischen oder
musikalischen
Mitteln keinen einzigen falschen Gedanken, keine einzige Entstellung
der
Wahrheit, die er erkennt, darstellen noch begleiten, noch im Rundfunk
senden.
- weder mündlich noch schriftlich ein einziges "leitendes"
Zitat anführen, um
es jemandem recht zu tun, um sich zurückzuversichern, um in der Arbeit
Erfolg
zu haben, wenn er den zitierten Gedanken nicht vollständig teilt oder
er keine
klare Relevanz hat;
- sich nicht zwingen lassen, zu einer Demonstration oder einer
Versammlung zu
gehen, wenn sie seinem Wunsch und Willen nicht entspricht. Kein
Transparent,
kein Plakat in die Hand nehmen oder hochhalten, dessen Text er nicht
vollständig bestimmt;
- die Hand nicht zur Abstimmung für einen Vorschlag heben, den er
nicht
aufrichtig unterstützt; nicht offen, nicht geheim für eine Person
stimmen, die
er für unwürdig oder zweifelhaft hält;
- sich zu keiner Versammlung drängen lassen, wo eine zwangsweise
entstellte
Diskussion zu erwarten ist;
- eine Sitzung, Versammlung, einen Vortrag, ein Schauspiel oder eine
Filmvorführung sofort verlassen, wenn Lüge, ideologischer Unfug oder
schamlose
Propaganda zu hören sind;
- keine Zeitung oder Zeitschrift abonnieren oder im Einzelhandel
kaufen, in
der die Information verfälscht wird und die ursprünglichen Tatsachen
vertuscht
werden...
Wir haben selbstverständlich nicht alle möglichen und notwendigen
Abweichungen
von der Lüge aufgezählt. Doch wer sich um Reinigung bemüht,wird mit
gereinigtem Blick leicht auch andere Fälle unterscheiden.
Ja, zunächst wird das nicht glattgehen. Der eine oder andere wird
zeitweilig
den Arbeitsplatz verlieren. Jungen Menschen, die nach der Wahrheit
leben
wollen, wird das anfangs ihr junges Leben sehr erschweren: denn auch
der
abgedroschene Unterricht ist voller Lüge. Man muß auswählen. Für
niemanden
aber, der ehrlich sein will, bleibt ein Versteck: für keinen von uns
vergeht
auch nur ein Tag, selbst nicht in den ungefährlichsten technischen
Wissenschaften, ohne zumindest einen der genannten Schritte - entweder
erfolgt
er in Richtung auf die Wahrheit oder in Richtung auf die Lüge; in
Richtung auf
geistige Unabhängigkeit oder geistiges Kriechertum.
Wer aber nicht einmal zum Schutz seiner Seele genügend Mut aufbringt,
der soll
sich auch nicht seiner fortschrittlichen Ansichten rühmen, soll nicht
tönen,
er sei Akademiemitglied oder Volkskünstler, verdienter Funktionär oder
General
- der soll sich sagen: ich ein Herdentier und ein Feigling, ich will
es nur
satt und warm haben.
Sogar dieser Weg - der gemäßigste aller Wege des Widerstandes- wird
für uns
Eingerostete nicht leicht sein. Doch wieviel leichter ist er als
Selbstverbrennung oder Hungerstreik: die Flamme ergreift deinen Körper
nicht,
die Augen platzen nicht vor Hitze, und Schwarzbrot mit Wasser findet
sich
immer für deine Familie.  (...)
Das würde kein leichter Weg? - doch der leichteste der möglichen.
Keine
leichte Wahl für den Körper - doch die einzige für die Seele. Kein
leichter
Weg - doch gibt es bei uns bereits Menschen, sogar Dutzende, die seit
Jahren
alle diese Punkte durchhalten, die nach der Wahrheit leben.
Somit: nicht als erste diesen Weg beschreiten, sondern SICH
ANSCHLIESSEN! Je
leichter und je kürzer uns dieser Weg scheint, desto enger verbunden,
in desto
größerer Zahl werden wir ihn einschlagen! Werden wir Tausende sein,
dann wird
man keinem mehr etwas tun können. Werden wir aber Zehntausende sein -
dann
werden wir unser Land nicht wiedererkennen!
Wenn wir aber in Feigheit zurückschrecken, dann sollten wir die Klage
lassen,
jemand ließe uns nicht atmen - das sind wir selbst! Werden wir uns
weiter
beugen und abwarten, dann werden unsere Brüder von der Biologie dafür
sorgen,
daß der Augenblick naht, zu dem man unsere Gedanken liest und unsere
Gene
umwandelt.
-- Alexander Solschenizyn, "Offener Brief an die sowjetische
Führung",
Darmstadt und Neuwied 1974.